Ein Antike-Baukasten für die Gegenwart

GOTT IST KEIN MANN KEINE FRAU IST EIN VIRUS [1]

Auftritt SARS-CoV-2. Eine globale pandemische Heimsuchung wird zum zeitverzögerten Eintritt in das 21. Jahrhundert, hält die Länder in Atem und hat die Theater zunächst mitten ins Herz getroffen. Heute haben wir die Gewissheit:  Die Corona-Krise hat eine eigene historische Dimension, eine so abrupte Vollbremsung der kapitalistischen Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens hat es noch nie gegeben. Um es mit dem marxistischen Historiker und Journalisten Vijay Prashad zu sagen: „Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war das Problem.“
Es ist ein im tiefsten Sinne tragischer Bund, den wir alle miteinander eingehen mussten: Auf nichts reagieren Menschen und Kulturen so schmerzlich wie auf die Unfähigkeit zu handeln, so haben wir das auch mit der durch die Pandemie aufgezwungenen Passivität erlebt. 

Während wir die Flugzeuge vom Himmel holten, stand auch die Theaterwelt für einen Moment still. Aber sehr bald begann sie sich, vorsichtig, tastend, wieder zu bewegen, mit einer etwas veränderten Sprache, neuen Formen, auf anderen Wegen. Wir alle suchten nach neuen Denk-, Spiel- und Dialogräumen.

BLACKBOX THEATER

Die irritierende Erfahrung von Vereinzelung, Kommunikationslosigkeit, Kontaktsperre und Isolation, führte zu der Idee von Monolog-Räumen als Zentren einer Inszenierung, die unter den neuen Bedingungen zu realisieren war.
Wir nennen unseren täglichen Arbeitsort, die Bühne, auch BLACKBOX. Jetzt bauten wir uns eine verkleinerte Version, eine Blackbox, die ausschließlich einem*r Schauspieler*in als Aktionsraum dienen soll. Mit den Theaterminiaturen bewegten wir uns in die Region hinein: Wir stellten unsere Blackbox an verschiedene Orte in Neustrelitz, Neubrandenburg, in die Region und schufen so sich ändernde Aufführungsorte. 

Der Benutzer unseres Baukastens wird diesen Orten immer am Ende eines Monologes begegnen, wenn sich die Theater-Blackbox öffnet und den authentischen Ort offenbart, an dem das Mini-Drama, die Mini-Tragödie, stattfinden: mitten unter uns.

AM RANDE DER VERZWEIFLUNG WIEDERHOLEN SICH DIE MYTHEN [2]

Auf der Suche nach einem universalen Stoff, der unseren Gefühlen der Krise und des Zweifels, der Machtlosigkeit und der Desillusionierung gewachsen sein sollte, rückte die antike Literatur in unseren Focus. 
Sollten wir die pandemische Heimsuchung als „Schicksal“ verstanden wissen oder sollten wir vielmehr dagegen aufbegehren und mit der List eines Odysseus zu neuen Ufern aufbrechen? Leben wir etwa doch nicht in der besten aller Welten? Oder sollten wir uns angesichts globaler Bedrohungen unserem Schicksal fügen wie z.B. Hekabe?

Mit den Protagonist*innen der antiken Literatur von Ovid, Sophokles, Aischylos, Euripides, den literarischen Rezeptionen von Goethe und Kleist, hören wir die Stimmen aus der mythischen Vorgeschichte der Menschheit. Es sind die Extremsituationen eines Ödipus, einer Antigone, Iphigenie, der Klytämnestra, des Herakles, Orest, Philoktet, Narziss. Es sind Hilferufe aus grauer Vorzeit und geronnene Menschheitserfahrung.
Mythenbildende Kraft ist geschichtslos. Das so aufgerissene Spektrum zeigt nicht nur, wie sehr die Antike unsere Handlungsmuster bis in unser tiefstes Wesen geprägt hat. Bei genauerem Blick sehen wir, auf welch mannigfache Weise auch unsere Zeit von der auratischen Kraft des Mythos zutiefst durchdrungen ist.

Unser 20köpfiges Schauspielensemble hat sich der antiken Figuren dabei auf so intime und zeitgemäße Weise angenähert, dass uns die kurzen Momentaufnahmen, die wir von ihnen erhalten, überraschende Perspektiven eröffnen. Und wenn sich am Ende der Monologe die Blackbox öffnet, hin in unsere Lebenswelt, dann werden die Alltagsorte für diesen kurzen Moment selbst zum mythologischen Raum.

DIGITALER BAUKASTEN

Bei der Konzeption unserer Inszenierung stand die Absicht im Zentrum, die Möglichkeiten digitaler Inszenierungspraxis auszuloten und das theatrale Spiel als unsere Grundkompetenz mit den interaktiven Möglichkeiten des Digitalen zu verbinden. Es entstand die Idee eines Baukastens, durch den Nutzer*innen über Keywords, die in uns allen bekannte Handlungsmuster und Emotionen aufrufen, navigieren können. Hinter den immer neu aufflackernden Begriffen verbergen sich tragische Schicksale, verlorene Figuren, gefangen in der Schicksalshaftigkeit ihres Seins. 

So ist aus dem digitalen „Antike-Baukasten“ ein mythologischer Abenteuerspielplatz geworden, auf dem Benutzer*innen auf spielerische Art neue Verbindungen zwischen den Schicksalen bekannter Figuren aus der Antike entdecken können. Jede*r Benutzer*in stellt dabei bei jedem Besuch eine neue und individuelle Inszenierung zusammen.

Mit diesem Bauprinzip möchten wir auf eine wichtige Qualität des Theaters verweisen:  immer wieder neue Fragen zu stellen, Irritationen auszulösen und zugleich jene ewigen Widersprüche unseres Dasein in neues Licht zu stellen. 
In einer Kommentarfunktion formulieren wir Statements und Fragen an die Nutzer*innen des Baukastens: Inwieweit sind die vorgeführten Handlungsmuster, die gerade gesehenen emotionalen Grundstrukturen Teil unseres kollektiven Bewusstseins und können ins Heute transferiert werden? Darüber wollen wir mit unserem Publikum ins Gespräch kommen.

Indem Besucher*innen dazu angeregt werden, das Geschehen zu kommentieren, beschränkt sich die Interaktivität der Inszenierung nicht lediglich auf die Navigation. Je mehr Nutzer*innen die Seite besuchen, desto reicher wird das Angebot an assoziativen Interpretationen der Monologe.
Wer noch mehr Inspiration sucht, kann sich jederzeit von unserem digitalen Orakel beraten lassen, das das Geschehen mit Witz und Weisheiten kommentiert.

Wir wollen mit unserer ersten digitalen Inszenierung unsere Besucher*innen einladen, die manchmal unheimliche neue Welt gemeinsam als das zu erleben, was sie im Kern ist: ein immer wieder neues Abenteuer des Lebens.

Tatjana Rese                 
Joris Löschburg   
Gregor Edelmann
                                                               
August 2020

[1] Heiner Müller: Krieg der Viren, in: Drucksache 20, Hrsg. Von der Berliner Ensemble GmbH 1996

[2] Peter Handke: Am Felsfenster morgens – (und anderen Ortszeiten 1982-1987), Suhrkamp-Verlag 2019